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Zur Geschichte des Modernen Yoga

Immer wieder erzählt und trotzdem ein Mythos fern der Wirklichkeit: Die Geschichte der Yogapraxis als die ununterbrochene Weitergabe der immer gleichen Übungen, der immer gleichen Konzepte, der immer gleichen damit verbundenen Ziele und Erwartungen. Tatsächlich ist die lange Geschichte der Yogapraxis aber geprägt von großen Brüchen, widersprüchlichen Bedürfnissen und begleitet von zahlreichen Legenden. Wie eigentlich ist jene Yogapraxis entstanden, die schließlich vor knapp hundert Jahren von Indien aus den Weg in den Westen gefunden hat? 

Wer sich darüber ein Bild machen möchte, findet eine faktenreiche und spannend geschriebene Antwort in einem Buch von Mark Singleton: Yoga Body, The Origins of Modern Posture Practice (bisher leider nur in englisch). Es gilt heute zusammen mit A HISTORY of MODERN YOGA (2005) von ELISABETH DE MICHELIS als Standardwerk. Teile der Yogaszene würden beide Bücher und die immer intensivere betriebene Forschungen über die Geschichte des Yoga gerne in einen Giftschrank für verbotene Literatur verbannen. Sie zeigen nämlich, wie wenig viele Vorstellungen über den Ursprung des heutigen Yoga mit der Wirklichkeit und wie viel mit verkaufsförderneden Legenden und Ideologie zu tun haben. Hier eine Zusammenfassung und Übersetzung einiger Abschnitte aus Mark Singletons Yoga Body.

„Heutige Âsanapraxis ist nicht das Resultat einer direkten und ununterbrochenen Traditionslinie des Hatha-Yoga.“

Zu weit ginge es allerdings, würde man sagen, dass die Moderne Âsanapraxis zur Âsanapraxis innerhalb der indischen Tradition keine Verbindung habe. Diese Verbindung existiert, aber sie ist eine von radikaler Erneuerung und des Experimentierens. Sie ist das Ergebnis der Anpassung an eine neue Sicht auf den Körper, ein Resultat von Indiens Begegnung mit der Moderne.

In großem Ausmaß entstand die populäre Moderne Âsanapraxis in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert als eine Kreuzung aus der Begegnung des kolonialen Indiens mit der damals weltumspannenden Körperkultur-Bewegung. Die Formen von Körperpraxis, die heute im internationalen Yoga verbreitet sind, wurden entwickelt in einem Klima intensiven Experimentierens und Forschens für einen indischen Weg der Körperkultur. Der Auftakt dafür war ein noch nie dagewesener Enthusiasmus für athletische und gymnastische Übungsmethoden, der während des neunzehnten Jahrhunderts England und Europa erfasste. Diese Disziplinen – und die damit verbundenen Wertvorstellungen – fanden ihren Weg nach Britisch-Indien, wo sie sofort die Stereotypen »indischer Weichlichkeit« wiederbelebten und gleichzeitig Methoden anboten, dieses Image zu widerlegen. Mehrere Grundtypen westlicher Gymnastik und Körperkultur beeinflussten während dieser Zeit das Körperverständnis in Indien in radikaler Weise. Das führte zur Entwicklung oder der Wiederbelebung »einheimischer« Übungsformen, die sich von diesen importierten Systemen unterschieden, oft aber Anleihen bei ihnen nahmen. Wichtige Persönlichkeiten in diesem Prozess waren unter anderen Swami Kuvalayananda (1883-1966), Shri Yogendra (1897–1989) oder Swami Sivananda (1887–1963).

Dr. Mark Singleton unterrichtet am St. John’s College in Santa Fe, New Mexico. Er war von 2003 bis 2004 Assistent von Elizabeth De Michelis und seine Doktorarbeit an der Universität Cambridge wurde die Grundlage für sein 2010 erschienenes Buch Yoga Body, The Origins of Modern Posture Practice.
Zurzeit arbeitet er zusammen mit Dr. James Mallinson an einer Quellensammlung von Yogatexten aus der indischen Tradition. Weitere Informationen über seine Veröffentlichungen und aktuelle Projekte finden Sie hier

 

Die indische Wissenschaftlerin und Frauenrechtlerin Meera Nanda über die Versuche hindusitischer Fundamentalisten, Yoga für sich zu vereinnahemen:

Wie alt ist Yoga?

Zum Weiterlesen:

DIE WURZELN DES YOGA, Artikel aus: VIVEKA, Heft 57 zum kostenlosen Download

T. Krishnamacharya

Mit keinem anderen zu vergleichen ist das Vermächtnis T. Krishnamacharyas an den zeitgenössischen transnationalen Yoga. Das liegt vor allem an der Verbreitung und Entwicklung seiner Lehren durch bekannte Schüler wie K. Pattabhi Jois, B.K.S. Iyengar, Indra Devi und T.K.V. Desikachar.

Krishnamacharyas Lehrtätigkeit umspannte fast sieben Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber es waren seine Jahre in Mysore, von Anfang der dreißiger bis Anfang der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts, die wohl den größten Einfluss auf die radikal körperorientierten Formen des Yoga über den ganzen Globus hinweg hatten. Während dieser Zeit erarbeitete Krishnamacharya ein System, dessen zentraler Bestandteil anspruchsvolle (und oft dynamische) Reihen von Âsana waren, die zu einer wiederholt praktizierten Sequenz zusammengefügt wurden. Der sehr in Mode gekommene Ashtanga Vinyasa Yoga von Pattabhi Jois ist eine direkte Weiterentwicklung dieser Phase von Krishnamacharyas Unterrichten [...]

Ähnlich B.K.S. Iyengar, der vielleicht mehr als jeder andere dafür getan hat, ein globales auf Âsana basierendes Yogasystem zu popularisieren: Er entwickelte seine Methode als Ergebnis seines frühen Kontakts mit Krishnamacharya in Mysore. Obwohl der dynamische Anteil in Iyengars Lehrtätigkeit sehr reduziert wurde, bleibt sie stark beeinflusst von den Âsana-Formen, die er von seinem Guru gelernt hat. 

Nur auf dem breiteren Hintergrund von Körpererziehung in Indien können wir den historischen Standort von Krishnamacharyas Hatha Yoga Methode verstehen. Der Stil der Yogâsana-Praxis, die im Westen seit den späten 1980er durch Pattabhi Jois’s Ashtanga Vinyasa (und den davon abgeleiteten Formen) Bedeutung erlangte, ist Ausdruck einer einzigartigen und nie wiederholten Phase von Krishnamacharyas Lehren. Als er in den frühen 1950er Jahren Mysore verließ, hielt die Weiterentwicklung seiner Methoden und ihre Anpassung an neue Gegebenheiten an. Dies zeigt sich daran, dass der Unterrichtsstil seiner späteren Schüler in Chennai (wie sein Sohn T.K.V. Desikachar und sein Mitschüler A.G. Mohan) wenig Ähnlichkeit aufweist mit den körperlich extrem fordernden, dynamischen Reihen, die von Pattabhi Jois gelehrt wurden.

Auch wenn die streng festgelegten Reihen des Ashtanga Vinyasa Yoga oder Iyengars Âsana-Stil dies vielleicht nicht vermuten lassen, war Krishnamacharyas Unterricht in den 1930er Jahren offensichtlich in einem hohen Maße experimentell. Bestätigt wird dies durch T.R.S. Sharma, einen der Schüler des YogaÍâlâ (so Name der Yogaschule T. Krishnamacharyas in Mysore), die nicht zur Familie des Maharaja gehörten. Sharma bekräftigt:

Krishnamacharya nahm als Antwort auf seine Schüler ständig Veränderung vor. Er entwickelte Variationen von Haltungen, wenn er sah, dass einige seiner Schüler sie einfach ausführen konnten. »Versuche das, versuche das hierher zu setzen, und das dorthin.« Er war immer dabei zu erfinden und Neuerungen vorzunehmen. Krishnamacharya bestand nie auf der immer gleichen Anordnung von Übungen, es gab da nichts Sakrosanktes. Er sagte zu mir: »Übe so viel wie Du kannst«. ...
Auch wenn Krishnamacharya sein Lehren in Mysore vielleicht systematisierte – worauf sein Buch Yogâsanagalu (1941) hinweist, das Tabellen von âsana und vinyâsa enthält, die mit Pattabhi Jois’s System vergleichbar sind – scheint es klar zu sein, dass die Art von „Sprung“- Yoga, die im Palast von Mysore verbreitet wurde, sich in einem Zustand nahezu ständiger Veränderung und Anpassung befand. Das steht in der Tat im Einklang mit dem fundamentalen Prinzip in Krishnamacharyas langer Lehrtätigkeit, dass eine Yogapraxis angepasst werden muss an die Zeit, den Ort und die spezifischen Voraussetzungen des Individuums.

Vieles spricht dafür, dass Pattabhi Jois’s System sich von dem unterscheidet, was Krishnamacharya wohl zu dieser Zeit andere Schüler gelehrt hat. Es kann gut sein, dass die dynamischen Sequenzen, die als Basis des Ashtanga Yoga gelten, eine besondere Art von Praxis darstellen, die Krishnamacharya Pattabhi Jois lehrte. Aber sie sind nicht repräsentativ für Krishnamacharyas gesamte yogische Pädagogik, selbst nicht zu dieser frühen Zeit.

Swami Kuvalyananda

Woher aber kam diese Art dynamischer Sequenzen? Singleton sieht deren Ursprung in der westlichen Gymnastikbewegung, die über die englische Kolonialherrschaft schließlich Indien erreichte und dort in den 1930er Jahren große Verbreitung fand. Die von Singleton erbrachten Nachweise dieses »Transfers« sind so überraschend wie beeindruckend. Eine wichtige Rolle spielte dabei wohl Swami Kuvalyananda, der 1921 das Kaivalyadhama Institut in Lonavla bei Bombay gründete und dessen Institut Krishnamacharya Anfang der 1930er Jahren besuchte ...

1933 wurde Kuvalyananda’s Curriculum der „Yoga Physical Education“ in die Unterrichtsstätten der Vereinigten Indischen Provinzen eingeführt. Zur Zeit von Krishnamachryas Besuch war Kuvalyanandas Âsana-Regelwerk das Paradigma des Yogaunterrichts in Indien. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass Krishnamacharya einige von dessen Herzstücken aufgegriffen und bei seiner Arbeit mit Kindern in Mysore benutzt hat. Kuvalyanandas Âsana-Regime basierte sehr stark auf europäischen Gymnastiktechniken, die in der Zeit der englischen Kolonialherrschaft in Indien auch durch seinen Lehrer Manick Rao unterrichtet und verbreitet wurden. Dessen Unterrichtsstil übernahm Kuvalyananda weitgehend. „Zuerst wird die Haltung durch den Lehrer genannt, danach werden die Schüler durch die drei Phasen der âsana gezählt (Einstieg, Korrekte Haltung, Ausstieg). Das ist tatsächlich genau das Format, das von Krishnamacharya in seinem frühen Unterrichten adoptiert wurde und in der Modernen Âsanapraxis als „count class“ oder „led practice“, in das Format des Ashtanga Vinyasa übertragen wurde. Diese Einflüsse bieten vielleicht eine sehr viel befriedigendere Erklärung der Zähl-Sequenzen des Ashtanga Vinyasa als die offizielle Version, wo es heißt, die genauen Schritte seien in einem fünftausend Jahre alten verlorenen Text, der Yoga Kurunta, oder in den Yajur oder den Rg Vedas zu finden.

Das Aufzeigen der Einflüsse und zweifelsfrei modernen Innovationen, die Krishnamacharyas Mysore-Methode auszeichnet (...) geschieht nicht, um ihm in irgend einer Weise eine mangelnde Authentizität zu unterstellen. Krishnamacharya hat – wie Legionen von indischen Gelehrten vor ihm – sein Unterrichten der kulturellen Stimmung seiner Zeit angepasst und ist gleichzeitig in den Grenzen der Orthodoxie geblieben. ...
Ohne Frage ist Krishnamacharyas Zeit in Mysore stark beeinflusst durch die gleiche Art »programmatischer Modernisierung«, die auch um ihn herum stattfand. Aber diese Erkenntnisse bedeuten weder eine Verminderung ihres Wertes noch das Leugnen der anderen praktischen und philosophischen Elemente, die so offenkundig Krishnamcharyas gelehrte Praxis beeinflussten, wie etwa die »klassischen« Methoden des Hatha Yoga oder die orthodoxe hinduistische intellektuelle Tradition, mit der Krishnamacharya so eng verbunden war.

Dass Krishnamacharya sich einiger Elemente populärer Körperdisziplinen bediente, setzt seine Methode in keiner Weise herab. Allerdings lassen sich darin gut die prinzipiellen Dynamiken von Wissensvermittlung überhaupt erkennen: sowohl in Bezug auf einen der ehrwürdigsten Yogalehrer des zwanzigsten Jahrhundert als auch in Bezug auf eine weit darüber hinausgehend zu beobachtende gegenseitige Beeinflussung von Moderne und Tradition.

Mark Singleton, Yoga Body, The Origins of Modern Posture Practice, Oxford 2010